Thorsten Meyer

Ocularist

München

Persönliche Notizen von Eva Leopoldi

 

Ein Kind fixiert bereits 9 Minuten nach der Geburt vorrangig Gesichter. Fast genauso lang, wie es das ganze Gesicht anschaut, betrachtet es die Augen. Die Augen und der Mund nehmen bei der Betrachtung und damit auch bei der Wahrnehmung des Gesichts und der ästhetischen Wirkung eine Schlüsselfunktion ein.

 

Darum sind die Ocularisten so wichtig für viele Menschen, denen, aus welchen Gründen auch immer, ein Auge fehlt.

 

In München arbeitet ein junger, total freundlicher Augenkünstler, der uns Einblick gewährte in seine Werkstatt und Arbeit. Ein Ocularist ist ein Glaskünstler, der sein Handwerk in Perfektion ausübt.

Denn hierbei ist dem Zufall, der Interpretation oder der künstlerischen Kreativität der Eintritt verwehrt. Er hat konkrete Vorgaben durch das noch erhaltene Auge und muss das Kunstauge so gestalten, dass kein Unterschied zum eigenen Auge zu sehen ist. Und er schafft es...

 

Wir durften in der Werkstatt von Thorsten Meyer zusehen, fotografieren und miterleben, wie aus einer Kryolithglasröhre, aus denen die Augenform geblasen wird, Kristallglasröhren und sog. farbigen Glaszeichenstängeln zum Gestalten der Iris ein Kunstauge wird. Dabei gelingt es tatsächlich, nicht nur die Iris zu kopieren, sondern auch die Färbung des „Augenweiß“, bis hin zu den roten Äderchen. Das war so faszinierend!!!

 

In der Regel ist es so, dass das gesunde Auge erst gezeichnet wird und dann ein gewisses Sortiment vorgearbeitet wird, aus dem dann ein Auge ausgewählt wird. Dann beginnt die Feinarbeit.

 

Um ein guter Ocularist zu werden, geht man bei einem erfahrenen Augenprothetiker in die Lehre, die mindestens 6 Jahre dauert!!! Hier arbeitet man nach dem Prinzip „learning by doing“. Es ist kein herkömmlicher Ausbildungsberuf. Nach ca. 6 Jahren macht man dann eine Prüfung vor Augenärzten und darf dann selber praktizieren.

 

Die Ocularisten regeln die Nachkommenschaft ihrer Zunft selber und dadurch gibt es auch keinen wirklichen Konkurrenzkampf. Natürlich muss sich ein neuer Augenkünstler in seiner Stadt erst einen Kundenstamm aufbauen, aber wenn er etabliert ist, ist es sozusagen ein Beruf mit lebenslanger Beschäftigungsgarantie.

Ein Traum!

 

Außerdem kann man Kunsthandwerk ausüben und gleichzeitig damit Menschen wieder glücklich machen. Traum Nr. 2!

 

Wieder einmal sind wir heimgefahren mit dem guten Gefühl, einen weiteren außergewöhnlichen Beruf und einen besonderen Menschen kennengelernt zu haben.

 

Übrigens haben fast alle Babys bei der Geburt blaue Augen. Die eigentliche Augenfarbe ist erst nach 2-3 Jahren zu sehen. Weltweit dominieren braune Augen, nur im Norden haben mehr Menschen blaue Augen, in Bayern sind die Augen gut durchgemischt :)

Ein Blick in die Werkstatt

Glaskunst in Perfektion


"Glasauge blau"
"Glasauge blau"

Literarische Bearbeitung des Ocularisten

Autor: Bert Rieser

 

Kunstwerke

 

-I-

Es war eine düstere Seitengasse im Münchner Westend, die auch bei Tageslicht kaum als freundlich bezeichnet worden wäre. Aber jetzt, kurz nach Mitternacht, strahlte sie etwas Fremdes, Unheimliches aus. Fast nirgendwo brannte Licht; die schwarzen Fensterhöhlen starrten wie tote Augen auf Hauptkommissar Rudolf Reichert herab, als er sein Auto geparkt hatte und ausgestiegen war. Das Blaulicht eines Streifenwagens, das sich in den Fensterscheiben brach, täuschte etwas Leben vor. Nur ein hellerleuchtetes Erdgeschoss durchbrach die Tristesse.

 

Der uniformierte Beamte tippte an die Mütze und informierte Reichert kurz, während dieser irritiert die Fassade des Hauses betrachtete. Das Gebäude stach aus der Reihe seiner grauen, heruntergekommenen Nachbarn so heraus, dass es wie ein Fremdkörper wirkte. Frisch verputzt, freundlich gestrichen, die Fensterlaibungen geschmackvoll abgesetzt, und mit drei flachen Marmorstufen davor, forderte es geradezu zum Eintreten auf. An der Seitenwand war ein großes, poliertes Messingschild angebracht. Martin van Winterijs stand darauf und darunter: Ocularist – Augenprothetik.

 

Erst jetzt dämmerte Reichert, was gemeint war. Am Telefon hatte er Okkultist verstanden.

Einer der Mieter, so berichtete der Polizist, war von einem Kneipenbesuch spät nachhause gekommen, sah die hell erleuchteten Fenstern des Ocularisteninstituts und entdeckte dann, dass die Tür zum Studio nur angelehnt war.

 

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"Manchmal sind Augen das Wichtigste..."
"Manchmal sind Augen das Wichtigste..."