Farko bewegt sich plötzlich auf der Artistenleiter, unserer tapferer Farko, er

stand die ganze Zeit über auf den Sprossen und rührte sich nicht mehr; ich

habe ihn beinahe vergessen. Vielleicht ist er eingenickt, dabei ist er der Einzige,

der sein Trainingspensum beibehalten hat und sich kaum eine Ruhepause

gönnt. Der Muskelumfang, sagt er, ist in den letzten fünf Jahren konstant

geblieben. Keinen Millimeter weniger Muskelumfang hat er sich erlaubt.

Gestern hat er eine halbe Stunde den Farko-Handstand auf einer Bierflasche

gehalten, mit einer Rose zwischen den Zähnen. Bis das Muskelfleisch

angefangen hat zu zittern.

Und als er mir dann die Rose ins Haar steckte, war das, als hätte er mir einen

Kuss geben.

 

Und ich? Ich liege auf dem Kanapee, wie immer. Trage das weiße Kleid, habe

die Rose von Farko im Haar. Bin allzeit bereit, falls Pjotr auf die Idee kommt,

üben zu wollen. Unter Wettkampfbedingungen, wie er das nennt. Ich weiß

noch genau, wie ich bei der ersten Vorstellung ein rotes Kleid anziehen wollte.

Er sagte, das gehe nicht, es müsse ein weißes Kleid sein. Man müsse das Blut

sehen, wenn denn etwas schiefgehen sollte. Ein rotes Kleid, meine Blume, ist

aus zirzensischer Sicht eine Katastrophe. Vor allem beim Messerwerfen.

Seitdem trage ich Weiß.

Ich fasse mir an den Bauch, versuche zu spüren, ob sich das Leben darin

schon bemerkbar machen will. Die anderen haben noch keinen Schimmer von

der Sache; sie glauben, in den breiteren Hüften und dem stolzeren

Bauchumfang ein Zeichen meiner Treue zu diesem Zirkus zu erkennen. Die

hat sich hier festgelegen, die wird hier rund und gemütlich. Die geht hier nicht

mehr weg. Nur Farko weiß natürlich Bescheid, seine Verführungskünste

trainiert er genauso wie seinen Bizeps. Doch es ist nicht so, dass mein Herz aus

dem Takt geraten wäre wegen ihm; und ich denke, er weiß, dass ich nicht mit

ihm rechnen werde. In Zukunft, was immer das heißt. Und dass ich ihm nicht

vorrechnen werde, welchen Grad an Verantwortung ich von ihm erwarte. Er

ist ein schwebender Mensch, und es wäre eine Sünde, ihn auf den Boden zu

holen.

 

In diesem Augenblick kommt es mir so vor, als hätte ich die Zeit angehalten.

Als würde ich ein Standbild betrachten. Ich sehe uns in diesem Zirkuswagen.

Von außen. Wir verharren in unseren Beschäftigungen, die so gut wie sinnlos

geworden sind. Rituale. Ich betrachte uns, als wären wir auf einem Gemälde zu

sehen. Ja, Pjotr, wir sind ein Gemälde geworden. Und du wirst nie wieder ein

Messer auf mich werfen, jetzt, wo ich ein Kind im Bauch trage. Vielleicht ahnst

du es schon, du bist doch eigentlich eine menschliche Apparatur mit feinen

Antennen. Der Baumeister hat an dir keine Kosten und Mühen gescheut, aber

auch er lässt dich altern. Deine Nervenenden haben noch nicht Alarm

geschlagen wegen mir. Über zwanzig Wochen schon haben sie dir ihren Dienst

versagt. Und seit über zwanzig Wochen hast du kein Messer mehr in der Hand

gehabt. Womöglich gibt es da einen Zusammenhang. Sicher gibt es den.

Geräuschvoll blätterst du die Zeitung um. Wieder nichts, sagst du. Aber

morgen wird sich schon jemand melden. Morgen ganz gewiss.

 

Gestern habe ich von Großmutter geträumt. Ich habe von ihren Händen

geträumt, die jeden Sonntag in der Kirche geklatscht haben. Ich habe von

ihren Händen geträumt, die das Tamburin spielen konnten ohnegleichen. Ich

habe von ihren Händen geträumt, die mich jedes Mal aufhoben, wenn ich

hinfiel.

Nur wegen ihr bin ich zum Zirkus gegangen.

Wegen des Tamburins und seinem eigenartigen Sehnsuchtsklang. Wegen ihren

Händen, Omas Händen. Natürlich habe ich mir das damals anders

zurechtgelegt. Ich möchte frei sein, habe ich gesagt, deshalb gehe ich zum

Zirkus. Ich möchte ein Leben voller Abenteuer führen, deshalb gehe ich zum

Zirkus. Wann fängt das an, dass man seinen eigenen Sätzen misstraut? Bei mir

war es, noch bevor ich lernte, den Sätzen anderer zu misstrauen. Das ist etwas,

nehme ich an, dass ich meinem Kind verschweigen werde.

 

Geboren bin ich im Jahr der Katze. Das hat Großmutter immer gesagt.

Geboren in einer Straßenecke wie aus einem Humphrey-Bogart-Film. Dass

mein Haar einmal rot werden würde, war zu dieser Zeit unvorstellbar gewesen.

Solche Farben gab es nicht, im Katzenjahr in der Humphrey-Bogart-Straße. Es

gab überhaupt wenige Farben, an die ich mich erinnern kann. Als wäre der

Farbfilm noch nicht erfunden gewesen.

Mein Kind wird im Jahr des Drachens geboren, so viel steht fest. Ich habe im

Buch der Magierin Ulanda nachgesehen, auch sie hat unseren Zirkus längst

verlassen. Ich werde mein Kind in einer Wohnung zur Welt bringen, nicht in

einem Zirkuswagen. Obwohl ein Kind, das im Jahr des Drachen geboren ist,

aus zirzensischer Sicht natürlich vielversprechend klingt. Und ich denke da

nicht an einen Feuerschlucker. Eher an die ganz große Flugkunst. Ein Kind

der Lüfte. Der Sohn eines Artisten wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein

Artist werden, sagt Pjotr immer. Und was tue ich, wenn mein Kind diesen

gewissen Glanz in den Augen haben wird, wenn es seinen Vater schweben

sieht? Ich werde es nicht ewig vom Zirkus fernhalten können.

 

Den Mietvertrag hat Farko gestern unterschrieben und weggeschickt. Vor den

Vermietern haben wir das Ehepaar gespielt. Als ich sagte, der Vertrag solle

über mich laufen, hat der Vermieter gelacht. Eine Frau unterschreibt bei ihm

keine Verträge, hat er gesagt.

Und das alles ist Pjotr entgangen. Farko wird mir helfen, von hier

wegzukommen, wenn es an der Zeit ist. Er wird mir eine Fahrkarte kaufen,

mich in einen Zug setzen und mir eine Rose in die Haare stecken zum

Abschied. Für Pjotr werde ich nur einen Brief übrighaben, der das erklären

wird, was er längst hätte wissen können. In diesem Brief wird stehen:

Freiheit ist die Freiheit des Dompteurs zu entscheiden, ob er seine Tiere oder

sich selbst verhungern lässt.

 

Das ist die Freiheit des ZIRKUS BECKMANN.

Freiheit ist die Freiheit des Kleinwüchsigen zu entscheiden, ob er sich in der

Manege oder in der wirklichen Welt auslachen lässt.

Das ist die Freiheit des ZIRKUS BECKMANN.

Freiheit ist die Freiheit des Artisten zu entscheiden, ob er sich vom Seil oder

vom Trapez in die Tiefe stürzt.

Das ist die Freiheit des ZIRKUS BECKMANN.

Freiheit ist die Freiheit des Messerwerfers zu entscheiden, ob er im Suff oder

nüchtern daneben wirft.

Das ist die Freiheit des ZIRKUS BECKMANN.

Und meine Freiheit ist es zu entscheiden, ob ich in einem weißen oder in

einem roten Kleid verwundet werden möchte. Sollte es doch noch zu einer

Abschiedsvorstellung kommen, wähle ich wie immer das weiße. Damit man

das Blut besser sieht. Das hat einen größeren Effekt auf das Publikum, hat

Pjotr mir gesagt.

Und das ist alles, worauf es ankommt.

 

 

Nach dem Gemälde Zirkuswagen von Max Beckmann (1940)

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