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Er hatte geläutet, geklopft, und, nachdem sich nichts rührte, hatte er die Tür aufgeschoben. Und dann sah er den Besitzer inmitten einer Blutlache auf dem Boden liegen.

 

Kommissar Reichert dankte dem Beamten und begrüßte Doktor Miranda Bellini, die gerade zusammen mit zwei Kollegen in den typischen Schutzanzügen der Spurensicherung aus einem VW-Bus stieg.

"Hallo, Doc, endlich bin ich mal als Erster da!"

Die Rechtsmedizinerin schüttelte seine Hand und lachte:

"Ciao, Reichert, wird wohl an seniler Bettflucht liegen!"

Der Kommissar antwortete mit einer Handbewegung, die nur Italiener verstehen und folgte ihr ins Haus.

 

Wie der Streifenbeamte gesagt hatte, lag der Tote in einer Blutlache am Boden. Die Augen waren geschlossen und das ganze Gesicht blutverschmiert. Dass der Mann tot war, daran gab es keinen Zweifel. Und daran, dass er ermordet worden war, auch nicht - aus seiner Brust ragte der Griff eines Messers.

Einer der uniformierten Polizisten berichtete, dass der Notarzt nichts mehr machen konnte und schon wieder weg sei. Doktor Bellini nickte.

"Da hat er wohl Recht gehabt, Kollegen. Sie können jetzt rausgehen, wir übernehmen."

Reichert trat näher und ging in die Hocke.

"Der ist nach seinem Tod doch noch bewegt worden, oder, Doc?" Er deutete auf Schleifspuren in der geronnenen Blutlache.

"Ja, schon gesehen", antwortete Miranda Bellini, "aber jetzt geh' uns aus dem Weg, bevor du Spuren verwischt."

Reichert warf einen Blick auf den Raum, der klinisch weiß wie eine Zahnarztpraxis eingerichtet war und trotzdem eine gewisse Behaglichkeit und edle Stilsicherheit aufwies, die sofort an sehr viel Geld denken ließ. Mit einem Taschentuch zwischen den Fingern zog er eine der zahllosen, schmalen Schubladen auf und zuckte zurück. Dutzende von Augen starrten ihn vorwurfsvoll an, wie in einem Panoptikum auf dem Oktoberfest.

Jetzt erinnerte sich Reichert wieder an den Beruf des Opfers. Er schob die Lade zu, ging ins Treppenhaus und stieg ein Stockwerk hoch.

 

Franz Biederstein, der van Winterijs gefunden hatte, wohnte wie die meisten Mieter schon seit Jahrzehnten in diesem Haus. Er erzählte, wie entsetzt sie alle gewesen waren, als das Gebäude vor etwa zehn Jahren verkauft wurde und der neue Besitzer, van Winterijs, ankündigte, dass er es komplett renovieren würde. Sie hatten schon zuviel von Luxussanierungen, Entmietungen und exorbitanten Preissteigerungen gehört, um glauben zu können, dass sie das nicht betreffen werde.

"Aber", fuhr der gesetzte ältere Herr fort, es war so. "Mijnheer van Winterijs hat Wort gehalten bis auf den heutigen Tag. Alle Wohnungen wurden topp saniert, der Lift eingebaut, die Fassade neu, super! Das muss ein Vermögen gekostet haben. Und dann noch die Villa in Grünwald ..."

"Wissen Sie, woher das Vermögen kam? Verdient man mit Augenprothesen so viel Geld?"

"Nein, normalerweise nicht. Ich habe mich mit van Winterijs gut verstanden, und er hat mir viel über seinen Beruf erzählt. Das ist, war ein Fanatiker, ein Perfektionist! Das sind ja ausgesprochene Künstler, die so etwas machen. Jedes Auge wird individuell angepasst, das dauert oft mehrere Stunden und kostet dann vielleicht 400 Euro. Ja, wenig ist das nicht, aber wenn man das Material rechnet, die Geräte – reich wird man davon nicht, auch wenn so eine Prothesenschale nur etwa ein Jahr hält."

"Prothesenschale?"

"Ja", lachte Franz Biederstein, "man stellt sich immer so runde Glaskugeln vor. Aber in Wirklichkeit sind das Halbschalen. Gibt's auch aus Kunststoff, die sind billiger, aber das Kryolithglas ist besser, sagt van Winterijs. Das hält länger, reizt die Augenhöhle und Bindehaut nicht so. Trotzdem ist nach etwa einem Jahr durch die Tränenflüssigkeit die Oberfläche so rau geworden, dass man die Schale ersetzen muss. Aber, wie gesagt, reich wird man nicht davon, es sei denn ..."

"Es sei denn?"

"... man hat einen Nebenverdienst", vollendete Biederstein seinen Satz und grinste verschwörerisch. Er senkte die Stimme und rückte seinen Stuhl näher an Reichert heran. "Es gibt da so reiche Spinner, die haben so seltsame Hobbys wie die Großwildjagd. Zahlen ein Schweinegeld dafür, dass sie in Afrika oder in Asien irgendein seltenes Tier totschießen dürfen. Ekelhafte Zeitgenossen. Und die Köpfe hängen sie sich dann ins Wohnzimmer. Bäh! Scheußlich, nicht wahr?" Reichert nickte und wartete, bis Biederstein fortfuhr. "Nun ja, und diese Spinner geben auch ein Schweinegeld dafür aus, dass ihre Opfer möglichst lebensecht aussehen. Dafür hat Mijnheer van Winterijs die Augen gemacht. Ich hab' mal so ein Präparat gesehen, da hab ich wirklich geglaubt, der Tiger lebt noch und springt mich gleich an. Ja, der Winterijs ist wirklich ein phantastischer Künstler! Und dann gibt's noch die vor Geld stinkenden 'Tierfreunde', die ihre Lieblinge nach dem Tod ausstopfen lassen. Hund, Katze, Ziege, Papagei – egal. Und die zahlen Unsummen für den treuen Blick ihrer Köter. Auch für die hat er die Augen gemacht – und sich sehr, sehr gut bezahlen lassen, glaube ich. Mein Gott, Hansi!"

Er hatte sich umgedreht und sprach mit seinem Kanarienvogel, der in einem Käfig auf der Schrankwand saß und Reichert misstrauisch beäugte. "Wenn du mal tot bist, dann lass ich dich auf dem Westfriedhof beerdigen mit allem Pipapo, aber bestimmt nicht ausstopfen. Pieep, Pieep."

Er merkte nicht mehr, wie Reichert leise die Wohnung verließ.

 

Nachdenklich stieg der Kommissar wieder die Treppe hinunter. Lebensechte Tieraugen, mein Gott, das ist wirkliche Dekadenz!

Plötzlich hörte er einen spitzen Aufschrei aus dem Ocularisten-Institut. Er sprang die restlichen Treppenstufen hinunter und rannte zur Tür. Den Schrei hatte Miranda Bellini ausgestoßen. So blass hatte Reichert sie noch nie gesehen.

"Doc! Was ist los?"

"Scusi, Reichert, ich bin nur erschrocken. So ein Wahnsinn! Wir haben die übliche Routine gemacht, Fotos, und dann habe ich ihn zur Seite gedreht. In der Blutlache unter ihm lagen seine Augäpfel und ein scharfer Löffel, so ein Ding, das man zum Grapefruitessen benutzt, weißt du? Jemand hat ihm mit dem Löffel die Augen exnukleiert!"

Reichert würgte und sagte dann:

"Ja, jetzt verstehe ich, warum du so erschrocken bist, Doc."

"Ach was, Reichert, so was haut mich nicht um. Aber bei der ersten Inspektion ist mir nichts aufgefallen, außer dem Blut im Gesicht. Keine eingefallenen Augenlider, verstehst du? Deshalb habe ich ihm die Augen geöffnet. Aber schau selbst!"

Sie drehte den Kopf des Opfers etwas. Reichert starrte in das verzerrte Gesicht, in die offenen Augen, drehte sich um, rannte aus dem Haus und kotzte den Streifenbeamten vor die Füße.

 

 

-II-

 

"Geht's wieder, mio caro ragazzo?", fragte Doktor Bellini mitfühlend, als Reichert nach längerer Zeit wieder durch die Studiotür trat.

"Ja, danke, es war nur ... Ich habe so etwas noch nie gesehen."

"Ich weiß, ich auch nicht, das kannst du mir glauben. Aber würdest du trotzdem noch mal...? Das ist nämlich sehr interessant!"

Reichert nickte und zwang sich hinzusehen. Er würgte erneut. Es war das reine Grauen.

In Gestalt eines blutigen Menschenkopfes glotze ihn der leibhaftige Satan an. Es waren wahrhaft teuflische Augen, die ihn gelb unterlaufen und blutig verschmiert mit waagrechten Schlitzpupillen fixierten, als wären sie mehr als lebendig.

Bei allem Ekel und Abscheu konnte Reichert doch kaum den Blick von der Fratze wende, und er wusste, dass sich dieses Bild lange in seine Träume einnisten würde.

"Jetzt pass, auf, Reichert, gleich wird's noch ekliger!", sagte die Forensikerin, drückte mit dem behandschuhten Daumen gegen das linke Unterlid, und mit einem schmatzenden Geräusch glitschte das scheußliche Auge auf ihre Handfläche.

"Pfui Teufel!", stöhnte Reichert. "Ein Glasauge!"

"Na ja, fast. Es ist nicht aus Glas, sondern aus einer Art plastischer Kunststoff, schau her."

Sie quetschte das grausige Objekt zwischen Daumen und Zeigefinger, und Reichert sah, dass es sich leicht verformte. "Deshalb kann es auch kugelig sein. Es passt sich der Orbita perfekt an. Und wie es gearbeitet ist – phantastisch! Siehst du die feinen Pigmenteinlagerungen in der Sclera, in der Iris, die Gefäßverzweigungen in der Chorioidea, die Feinheiten im Corpus ciliare? Und die Hornhaut, die sich nach dem Tode normalerweise trübt, ist klar wie ein lebendiger Konvexspiegel. Wahnsinn. Das muss ein echter Künstler gemacht haben!"

"Ja, schon gut, Doc. Aber das ist doch wohl kein Menschenauge, oder?"

"Ich bin keine Veterinärin, aber ich schätze, das ist ein Ziegenauge. Und als du vorhin ... draußen warst, haben wir die anderen Räume inspiziert. Sven und Herr Meier sichern gerade die Spuren. Hier geht's zur Werkstatt." Sie deutete auf eine nun offenstehende Tür, durch die Reichert weiße Resopaltische mit Gasbrennern, seltsame Zangen und Sonden und verschiedenfarbige Glasstäbe erkennen konnte. Einer der SpuSi-Leute war gerade dabei, alles mit grauem Graphitpulver zu bepinseln. Augenförmige Glaskugeln an langen Glasröhren standen in Gitterboxen, fast fertige Augenschalen aus Kunststoff und Glas lagen auf Krepppapier aufgereiht, und die Zimmerwand war tapeziert mit großformatigen Augenfotografien.

"Ja", fuhr Bellini fort, "wir haben zahlreiche Werkstücke gefunden, fertige Prothesen, jede Menge Rohlinge, seltsamerweise auch von Augen verschiedenster Tiere, aber..."

"Stimmt. der Nachbar hat mir gesagt, dass er für Spinner auch teure Tieraugen hergestellt hat. Aber ...?"

"Wir haben kein einziges Exemplar von dieser Machart und Qualität entdeckt!" Sie warf das Ziegenbockauge in die Luft und fing es wieder auf. "Das besteht aus einer Art von Silikon oder einer anderen Kunststoffart. Wir werden das untersuchen. Aber die normalen Plastikaugen können diesem Satansauge qualitätsmäßig nicht annähernd das Wasser reichen. Und vor allem sind sie nicht verformbar, sondern hart. Das ist doch sehr seltsam, nicht wahr?"

Reichert nickte.

"Jetzt komm mal mit!" Sie zerrte Reichert in das Labor hinein und zeigte auf eine Wand.

"Siehst du die Tür da? Das ist massives Stahlblech mit Sicherheitsschloss. Wir haben keinen Schlüssel gefunden, aber wahrscheinlich sind da drin die Sonderexemplare. Aber wir bekommen die Tür nicht auf und warten jetzt auf unsere Schlossspezialisten."

"Okay, Doc, ich fahr jetzt ins Büro und versuche, etwas zu recherchieren. Viel Spaß im Gruselkabinett!"

"Werd' ich haben, ciao, ciao, bello!"

 

Inzwischen war es hell geworden, und die Morgensonne verdünnte die Erinnerung an die Teufelsaugen des Toten etwas. Reichert gab einen Suchbegriff im PolNet ein und lehnte sich in seinem antiquarischen Drehstuhl zurück, während er auf den Seitenaufbau wartete.

 

 

Treffer!

Gleich der erste Versuch brachte einen Hinweis auf Martin van Winterijs. Er hatte über seinen Anwalt Anzeige gegen eine seiner Meinung nach militante Tierschützerin erstattet.

Reichert blätterte im Akt zurück. Eine Andrea Schmitt-Koller war schon mehrfach gegen ihn ausfällig geworden, hatte ihn angezeigt und beschuldigt, er würde Haustiere einfangen, Hunde, Katzen, Kaninchen – und sie umbringen, ihnen die Augen ausstechen und ähnlichen Unsinn mehr. Die Ermittlungen ergaben keinen Anhaltspunkt, was sie aber nicht daran hinderte, weiterzumachen. So blieb van Winterijs nichts weiter übrig, als seinerseits Anzeige wegen Verleumdung und übler Nachrede zu erstatten und ein Annäherungsverbot zu beantragen. Dies war auch vorgestern ausgesprochen worden, wie der Aktennotiz zu entnehmen war.

Eine so fette Anfangsspur hatte Reichert schon lange nicht mehr gehabt.

 

-III-

 

Das Klischee passte beängstigend. Der Hof wimmelte von Katzen, die undefinierbares Zeug aus irgendwelchen Behältern fraßen, aus einem Gehege starrten dümmlich fette Hasen, ein verfilzter Hund hob träge ein Ohr, als Reichert den Garten betrat, und von hinter dem Haus erklang eine beängstigende Kakophonie aus Grunzen, Knurren und Fiepen. Reichert musste sofort an einen verwahrlosten Zoo denken, ein Gefühl, das durch den Gestank noch verstärkt wurde.

Die Besitzerin dieses Bestiariums war vor die Tür getreten und musterte Reichert misstrauisch. Sie war klein, drahtig, hatte die langen, grauen Haare auf den Rücken zusammengebunden und stellte einen verkniffenen Gesichtsausdruck zur Schau.

"Was wollen Sie?", keifte sie den Kommissar an, starrte kurz auf seinen Ausweis und belferte gleich weiter: "Ja, ja, ich habe ihn zur Rede gestellt, weil er mich angezeigt hat, na und, dann verhaften Sie mich halt. Aber dass er tot ist, dafür kann ich ..."

Sie verstummte schlagartig, und Reichert schüttelte wieder einmal innerlich den Kopf über die unglaubliche Blödheit mancher Mörder. Die grauhaarige Tierfreundin konnte nur etwas von van Winterijs' Tod wissen, wenn sie selbst die Täterin war.

Er zog sein Handy aus der Tasche und beorderte einen Streifenwagen zur Unterstützung, während er die Frau im Auge behielt. Sie hatte sich auf die Hausbank niedergelassen und die Hände vors Gesicht geschlagen.

"Sie haben wirklich einen Menschen umgebracht und ihn auch noch verstümmelt, weil Sie glauben, er würde Hunde oder Katzen töten?" Die Frau sah auf und schrie:

"Dieses Mensch hat es nicht anders verdient!"

Sie schrie nicht: Dieses Schwein, diese Ratte, sondern wirklich dieses Mensch.

"Jede Mücke ist besser, als dieses Mensch!"

Sie nestelte in ihrer Hosentasche und warf Reichert einen Schlüssel vor die Füße.

"Da, gehen Sie hin, schauen Sie in sein Horrorkabinett, und Sie werden verstehen!"

 

Bevor Reichert etwas erwidern konnte, läutete sein Telefon. Es war Doktor Bellini, und sie klang sehr verstört.

"Reichert", sagte sie, "wir haben die Tür geöffnet ..." Sie schwieg einen Moment. "Da drin ist ein richtiges Laboratorium. Der Kerl hat offenbar ein chemisches Verfahren entwickelt, organische Stoffe durch eine Art von Polymerisation in einen Kunststoff zu verwandeln, ohne dass ihre Eigenschaften verändert werden. In den Retorten liegen ... Hunderte von echten Augen in einer stinkenden Flüssigkeit und in den Schubladen Tausende von fertigen Exemplaren, die aussehen, als wären sie noch am Leben!"

"Doc", antwortete Reichert, "ich habe hier eine praktisch geständige Täterin. Und jetzt, nachdem, was Du mir erzählt hast, weiß ich, dass ihre Anschuldigungen wahr sind. Der Kerl hat den Tieren wirklich sozusagen die Augen ausgestochen. Aber deshalb kann sie ihn doch nicht einfach umbringen und Teufelsaugen in seinen Kopf drücken! Obwohl – ein wenig kann ich sie ja ..."

"Reichert", unterbrach ihn Miranda Bellini, und ihre Stimme war kaum noch zu verstehen. "Reichert, in den Retorten schwimmen nicht nur – Tieraugen."

 

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