....

Nach einigen Kilometern sieht er plötzlich rüber.

„Und, wohin sind Sie unterwegs?“

 

Gesiezt hat mich beim Trampen bisher auch noch keiner. Also liegt es doch an mir, nicht an der Welt, dass sich Dinge verändern?

 

„Ich will nach Italien. Einfach so. Ein paar Tage Sonne tanken. Hier war ja bisher nicht wirklich Sommer. Naja, bis gestern Abend zumindest…“ ich grinse ihn an.

 

„Sie studieren nicht mehr, oder?“

„Nein.“

„Was tun Sie denn?“

Plötzlich schaut er weg. Wahrscheinlich ist es ihm peinlich, dass er fragt und fragt…

 

„Dies und das. Und sie?“

„Ich mache Parfüms. Parfümeur also. Ich bin Parfümeur.“

„Wusste gar nicht, dass es so etwas noch gibt.“

„Natürlich gibt es das. Woher sollten sonst all die Parfüms kommen?“

Für einen Moment ist er so fassungslos, dass er fast unhöflich wirkt.

„Entschuldigung“, (er merkt es im selben Augenblick wie ich), „ich bin ein bisschen angespannt.“

 

Eine Zeitlang schweigen wir.

 

„Sie sind die erste Tramperin, die ich mitnehme. Sagt man das noch: Tramperin?“

„Ja“, ich muss fast lachen. OK, er ist einfach nur komisch, aber definitiv kein Psycho. Ich entspanne mich. Der Alfa brummt zufrieden unter uns.

 

„Warum nehmen Sie keine Tramper mit? Ist doch manchmal ganz unterhaltsam.“

„Wegen der Gerüche.“

Ich verstehe nicht gleich.

 

„Menschen riechen und ich will nicht jemanden in meinem Auto haben, der mich in den Wahnsinn treibt. Man kann ja dann auch keinen wieder rausjagen nach ein paar Minuten. Mit der Begründung, dass man ihn nicht riechen kann. Oder?“

 

Ich stelle es mir vor, muss wieder grinsen. Dann wird mir klar, warum er vorhin an der Kasse nach meiner Frage so dicht an mich ran gerückt ist. Offensichtlich habe ich den Geruchstest bestanden. Andererseits finde ich, er übertreibt ein bisschen: Bevor ihm in diesem Auto jemand stinkt, muss der schon richtig was anstellen.

 

„Wieso haben Sie mich mitgenommen?“

„Ich bin ein bisschen… angespannt. Das sagte ich schon, oder? Ich dachte, vielleicht ist es diesmal eine gute Idee, mich ablenken zu lassen. Von mir selbst und meinen Gedanken.“

 

„Woher kommen Sie gerade?“, frage ich nun.

„Von einem Klassentreffen.“

„Oh, interessant!“

 

Ich finde das wirklich interessant. In meiner Phantasie befasse ich mich dauernd damit, was in zehn Jahren sein wird und was vor zwanzig Jahren war oder vor 16 ½ … „Erzählen Sie mal!“

 

„Da gibt es nicht so viel zu erzählen. Nur eine Geschichte von einem eigenartigen Jungen, der an allem roch und einem Mädchen, das gut mit diesem Jungen auskam. Davon, dass der Junge nicht am Ball blieb. Dass er das Mädchen aus den Augen verlor. Dass er sie zehn Jahre später wieder traf und sich mit ihr stritt. Dass er gehofft hat, sie nun wieder zu treffen. Aber sie wird nicht mehr kommen. Was eigentlich egal ist, denn sie hatte vor zehn Jahren, kurz vor diesem Streit, schon einen anderen Mann gefunden. Nur der Junge von damals, dieser eigenartige Junge, der an allem roch, der hat niemanden gefunden. Und so wird es wohl bleiben.“

 

„Eine tendenziell triste Geschichte mit einem unerfreulichen Ende?“

 

„Ganz genau. Eine melodramatische Geschichte, vor allem, wenn dem Mann dabei die Tränen in die Augen treten, weil er bereut, dass er den Hintern nicht hoch bekommen hat, als er das noch hätte tun können.“

 

„Erzählen Sie mal.“

 

Ich denke an Enno, während ich mich im Beifahrersitz zurechtrücke. An Enno mit seiner verdammten Sicherheit, die mich gleichzeitig nervt und anzieht. Er hat keine Angst vor Entscheidungen – nicht so wie Mr. Nase hier und wie ich zum Beispiel. Enno war immer schon bereit für alles. Bereit fürs Leben, bereit für Langeweile, bereit für Stress, bereit, sich nicht unbedingte Unverbindlichkeit auszuhandeln, um jederzeit für „etwas Besseres“ abrufbar zu sein… und dennoch der Mensch, mit dem man am meisten Spaß haben konnte. Während ich noch über diesen Widerspruch nachsinne, der vermutlich keiner ist, erzählt der Alfa-Fahrer.

 

„Gestern Mittag bin ich losgefahren. Vor mir 653 Kilometer Autobahnfahrt. Dann noch 43 Kilometer Landstraße. Gern wäre ich Zug gefahren. Nichts zu tun, einfach nur dazusitzen, das hätte mir gut getan. Aber ich wusste genau, welches Risiko ich im Zug einging. Es könnte sich jemand neben mir niederlassen, den ich buchstäblich nicht riechen konnte. Ich würde ins Restaurantabteil fliehen müssen, nach kurzer Zeit schon. Und dort mit noch viel mehr Gerüchen kämpfen. Nicht raus können. Aushalten. Gezwungen sein.

 

Diese Vorstellung war das Gegenteil von dem, was ich dringend brauchte. Dann schon lieber die lange Strecke am Steuer sitzen. In meinem Auto muss ich nichts und niemanden einatmen.“

Das stimmt: immer noch Wind und überraschend wenig Geräusche um uns herum. Die Straßen, die wir nehmen, sind ziemlich leer. Er scheint sich gut auszukennen mit Nebenstraßen. Dauert zwar deutlich länger als auf direktem Weg, aber es macht Spaß. Der Wind und die Gerüche – so nah bin ich alldem, was um mich ist, sonst nicht.

 

Irgendwann fährt er fort: „Ich kam zeitig an, Stunden zu früh eigentlich. Aber ich hatte sie auf keinen Fall verpassen wollen. Sie – das war Mara Dohla. Natürlich nannten sie damals in der Schule alle Dohle. Sie war ein stilles Mädchen, die nach einer Mischung aus Mandeln und ein ganz klein wenig Hibiskusblüte und Honig roch. Sie hatte rabenschwarze Haare, aber genauer kann ich nicht sagen, wie sie aussah. Ich weiß, dass siewunderschön war, ohne sie beschreiben zu können. Gesichter kann ich mir überhaupt nicht merken. Neulich las ich, dass es eine Krankheit gibt – die so genannte Gesichts-blindheit. Ich überlege ernsthaft, ob ich die vielleicht habe…

 

Jedenfalls kann ich mich schlecht an das Aussehen eines Menschen erinnern. An meine anderen Mitschüler sowieso nicht. Nur olfaktorisch sind sie mir in Erinnerung geblieben, weil die meisten in dieser Hinsicht eine ziemliche Zumutung waren. Ich bin auf dem Land groß geworden, in einem Cocktail aus verschiedensten Mist-Nuancen, Heu, dem fischigen Dunst des kleinen Weihers und irgendwas Verbranntem. Denkt man sich dazu den Geruch eines beliebigen pubertierenden Jungen oder die provinziellen Ideen eleganter Weiblichkeit an halbwüchsigen Mädchen, dann kennt man die duftigen Begleiter meiner Jugend. Kein Wunder, dass ich die Erinnerung an sie erfolgreich verdrängt habe.

 

Auch an Mara haftete der Geruch der Provinz. Aber sie umschwebte noch mehr. Mehr von allem, was ich mochte. Und etwas, was ich nicht kannte. Bis dahin noch nie mit meiner Kindernase gerochen hatte. Und auch später nicht. Bis heute. Auch als sie älter geworden war, als junges Mädchen, hat sie nie begonnen, diesen Duft mit Parfüm zu überdecken. Und ihr Geruch hatte sich auch mit dem Heranwachsen kaum verändert. Während andere plötzlich ganz anders rochen, praktisch von einem Tag auf den anderen, war ihr Geruch ihr immer treu geblieben.

 

Nach der Schulzeit waren wir auseinander gegangen, sahen uns noch dreimal eher zufällig, dann gar nicht mehr. Sie hatte in einer anderen Stadt zu studieren begonnen, war immer seltener bei ihren Eltern zu Besuch. So verschwand sie aus meinem Leben. Obwohl ich das nie gewollt hatte. Ich hatte allerdings auch nie gewagt, näher an sie heranzukommen. Dabei waren wir während der Schulzeit beinahe befreundet gewesen. Soweit ich das als Unbeteiligter zum Thema Freundschaft vermuten kann.“

 

Schweigend fahren wir weiter, jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Schließlich erzählt er weiter:

„Dann gab es dieses Klassentreffen, zehn Jahre nach Abschluss der Schulzeit. Ich hatte so gehofft, sie zu sehen. Sie zu riechen. Endlich die Chance zu bekommen, sie wieder in meinem Leben zu haben.

Ich weiß, das klingt jetzt nicht überraschend, aber ich habe nicht sehr viele Menschen um mich. Will’s auch nicht. Menschen an sich interessieren mich nicht besonders. Wahrscheinlich geht es den meisten so. Es ist nur nichts, was man gern zugibt.

 

Jedenfalls nahm ich meinen Mut zusammen, fragte sie – ich wollte mit ihr zusammen sein. Sie flippte aus. Sie war mit einem anderen Mann zusammen, wie sollte ich das wissen?“

 

Seine Hände, die bisher sicher und leicht am Lenkrad gelegen hatten, zittern leicht. Er sieht mich an, um Zustimmung appellierend. Ich kann mir leider genau vorstellen, wie sie sich gefühlt hat: Jahrelang war sie neben ihm gewesen, er hatte nichts getan, sie hatte vielleicht dieses oder jenes andere Arrangement ausgeschlagen… und nach der Schulzeit war er abgetaucht. Wahrscheinlich hatte sie noch vier, fünf Jahre gehofft, dann aufgegeben. Und nachdem es halbwegs verheilt war, sie sich in einem anderen Leben eingerichtet hatte, kam er und riss wieder dran. An dem Faden, mit dem sie alles notdürftig zusammengeflickt hatte, einen neuen Boden gebaut hatte, um sich darauf anders einzurichten als ursprünglich geplant…

 

ja, ich konnte verstehen, warum sie wütend geworden war. Trotzdem nicke ich ihm ermutigend zu. „Und?“

 

Er lacht nervös.

„Ja, dieses Treffen war schlecht gelaufen. Richtig schlecht. Ich habe mich mit ihr gestritten. Dabei streite ich mich praktisch nie. Und dann ausgerechnet mit ihr… jedenfalls war das der Grund, warum ich auf das Klassentreffen gestern wollte. Ich wollte sie wiedersehen. Ich meine, der Streit ist zehn Jahre her. Ich weiß, dass sie mit ihrem Mann zusammengeblieben ist, mit dem von damals. Es gibt drei Leute aus unserer ehemaligen Klasse, die mit jedem Kontakt halten. Sogar mit mir. Deshalb wusste ich das mit dem Mann und auch, dass sie nach wie vor als Musikerin arbeitet…“

 

„Moment“, das ist nicht zu fassen: „Sie haben jetzt ernsthaft nochmal zehn Jahre gewartet? zehn Jahre? Statt einfach anzurufen oder einen Brief zu schreiben, eine Mail, irgendwas?“

 

„Ja“, man merkt ihm an, dass ihm unbehaglich wird.

 

„Und jetzt? Haben Sie sie gestern wieder gesehen?“

 

„Nein, sie ist nicht gekommen. Ich werde sie nicht mehr sehen. Sie fehlt mir. Seit gestern Abend weiß ich, dass sie mir ab jetzt jeden Tag fehlen wird. Was absurd ist. Denn sie ist seit 20 Jahren kein Teil meines Lebens mehr, war es vielleicht nie wirklich. Sie hätte es sein können, wenn ich etwas gesagt hätte. Aber das habe ich zu spät begriffen.“

 

Wir sind da. Münchner Vorort, Autobahnraststätte. Hier hat er mich extra her gebracht, damit ich auf der Autobahn weiter kann.

Er hält. Aber wir sind noch nicht fertig miteinander.

 

„Wieso wollen Sie es nicht nochmal versuchen, jetzt? Sie anrufen? Sie besuchen? Irgendwie alles aufklären…“

 

„Es geht nicht mehr. Wirklich nicht.“

Er schaut mir jetzt direkt in die Augen. Der Alfa schweigt.

 

„Sie ist nicht zu dem Treffen gekommen, weil sie nicht mehr konnte. Ihr war etwas flau gewesen an diesem Nachmittag, eine Woche vor dem Treffen. So hätte sie selbst es wahrscheinlich im Nachhinein beschrieben, wenn sie das noch gekonnt hätte. Ihr Mann war auf einer Bergtour. Sie war unterwegs mit einer Freundin. Dann, nach Hause zurück gekommen, war irgendwann plötzlich übel geworden, sie musste sich setzen, legte sich schließlich aufs Sofa. Nur für einen Moment, so hatte sie gedacht. Ihr Mann fand sie am Abend dort...“

 

Er schluckt, schaut weg: „… ich weiß nicht, was mich verzweifelter macht. Dass es sie nicht mehr gibt, dass ich sie nie mehr sehen werde. Oder die Tatsache, dass ich mich mit dem einzigen Menschen auf der Welt gestritten habe, an dem mir etwas lag. Und dass ich es nicht wieder gutmachen kann.“

Er kann nicht weiter. Mir fällt nichts ein, was ich sagen kann. Ich denke. Und fühle. Seinen Schmerz. Größer vielleicht, als …

 

Da sagt er es schon: „Nein, ich weiß, was das Schlimmste ist: ich komm mir unberechtigt vor – ihr Mann darf trauern, er hat etwas verloren. Ich? Ich hab sie ja gar nicht wirklich in meinem Leben gehabt. Aus Angst vor … aus Angst vor ich-weiß-nicht-was… hab ich es nie wirklich versucht.“

 

Wir sehen uns in die Augen. Es gibt nichts mehr zu sagen. Selbst das übliche „Danke“ und „gute Fahrt“ erscheint unpassend…

 

Ich schlage die Tür hinter mir zu. Hebe die Hand und winke ihm zum Abschied. Winke und winke. Wie ein gestörtes kleines Mädchen, das sich von jemandem verabschieden muss, den sie nicht gehen lassen will. Lächerlich. Sehe ihm nach, bis ich auf der schnurgeraden Strecke nichts mehr erkennen kann von seinem wunderschönen Auto. Britisches Grün, weiches Schwarz, viel Wind und Sonne drum herum. Dann nur noch Geflimmer überm Asphalt.

 

Ich wähle Ennos Nummer. Ich weiß nicht, ob es richtig ist. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin.

Ob es sich lohnt, ob es hält, ob es weh tun wird, ob ich es bereuen werde…

 

Ich weiß nur, wenn ich es nicht probiere, werde ich noch jahrelang auf der Straße leben. Emotional zumindest. Ich habe Lust, mit Enno zusammen wegzufahren. Nur mit ihm.

 

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