„Sie arbeiten zu viel“, sagte Herr Deftner und legte die Hand auf ihre rechte Schulter. „Da ist ein junger Maler, sagt, er kann keinen richtigen Pinsel finden, ist verzweifelt… Haben Sie etwas für ihn, Alina?“

 

    Alina starrte ungläubig in die geröteten Augen des Meisters, die er immer wieder hinter den dicken Brillengläsern rieb. Wer wusste besser als er, dass sie neu in seiner Werkstatt war, noch in der Ausbildung – sie war so neu in diesem Handwerk, dass sie erst heute etwas erfahren hatte, etwas, was sie eigentlich schon hätte wissen müssen, was keinesfalls ein Geheimnis der Zunft war, was jeder, der sich Gedanken über die Pinselmacherei machte, sei es auch nur oberflächig, hätte wissen können.

Nicht Alina. Sie hatte immer nur an die Faszination der Pinsel selbst gedacht, an die Vielfalt, an die Schönheit, die sie in den richtigen Fingern herzaubern konnten. Sie wollte ein Teil davon sein. Sie wollte im Museum vor einem Meisterwerk stehen und sagen können, ja, ich war es, es war mein Pinsel, der diese einmaligen Züge und Striche vollzogen hatte, ich bin ein Teil dieser Vollkommenheit.

Und dann heute diese Erkenntnis. Die Selbstverständlichkeit dieser Erkenntnis veränderte alles.

 

    „Dieser da, wäre der nicht etwas für den Künstler in Not?“ Herr Deftner beugte sich über den Nebentisch mit ihren aufgereihten fertigen Pinseln und streichelte einen nach dem anderen, bis seine Fingerkuppen an einem mit langen hellen Borsten ruhen blieben, den ersten, den Alina an diesem Tag fertiggestellt hatte. „Der glänzt so einzigartig.“ Er strich mehrmals langsam über die harten Haare. „Sie haben Kraft, sie sind zu Großem geschaffen.“ Alina machte den Mund auf, wollte erklären, wo alles schon klar hätte sein sollen. „Den geben wir ihm. Der ist der Richtige.“ Und mit einem müden Lächeln aber ohne ein weiteres Wort nahm der Meister den Pinsel mit den langen hellen Borsten, hielt ihn hoch wie einen zerbrechlichen Pokal und ging in den Laden zurück.

 

    Alina schaute ihm noch einige Augenblicke nach, dann widmete sie sich ihrem letzten Pinsel für den Tag. Und überhaupt. Schleichend kam die Entscheidung zu ihr, schleichend und planlos, aber klar und unausweichlich. Als alles erledigt war, sammelte sie ihre Sachen, zog den Mantel an, weckte sanft den alten Peter, der sie verwirrt anlächelte, und verließ die Werkstatt. „Bis morgen“, hörte sie den Meister hinter ihr rufen. Sie drehte sich nicht um, sagte nichts, ging nach Hause.

 

    Die nächsten Tage klingelte oft das Telefon, Alina ging nicht ran, Herrn Deftners tiefe Stimme auf dem Anrufbeantworter verstand nicht, wo Alina denn geblieben sei. Alina verstand selbst nicht alles, und auch wenn sie vollkommen gesund war, ein wenig kränklich fühlte sie sich doch. Sie verließ kaum die Wohnung, starrte viel vor sich hin. Hörte keine Musik und las keine Bücher. Dann eines Morgens läutete es an ihrer Tür, sie hatte noch den Morgenmantel an, die Zähne noch nicht geputzt. Der Meister. Da stand er und sah sie von der anderen Seite des Gucklochs an. Unhöflich lange tat Alina nichts. Dann klopfte der Meister, als wüsste er alles, und sie machte auf.

 

    „Sind Sie krank? Fehlt Ihnen was? Wo bleiben Sie? Wir vermissen Sie. Was ist passiert?“ Er sprach langsam, überlegt: keine Spur von der Aufregung seiner Worte in seiner Stimme. Er machte keine Anstalten, hereinzukommen. Er suchte Alinas Blick. „Ich kann nicht“, sagte sie leise. „Ich brauche Sie, Alina.“ „Ich kann nicht.“ „Der junge Mann braucht Sie“, sagte der Meister mit einer festen Stimme. Endlich sah Alina ihn in die Augen. „Welcher junge Mann?“ „Der Künstler, der ihren Pinsel gekauft hat, den dicken mit den langen hellen Borsten.“ Der Meister schlug mehrmals lautlos die Finger aneinander, als würde er nachdenken und nicht als würde er sich darüber freuen. „Und was will er jetzt? Hat er sich beschwert? Sie wussten doch, dass ich noch nicht…“ Der Meister unterbrach sie mit einer ausschweifenden Armbewegung, das Gesicht verzweifelt verzerrt. „Sie verstehen das nicht. Er hat mir gestern sein Bild gezeigt.“ Und immer noch standen sie an der Tür. „Und?“ „Es ist ein Meisterwerk, Alina.“ Alina errötete, dachte an dies aber vor allem an jenes und wurde sich plötzlich ihres Morgenmantels und Schlafatems bewusst. „Wollen Sie reinkommen, Herr Deftner?“

 

    Sie saßen sich gegenüber am Küchentisch und tranken Kaffee.

 

   „Es war Ihr Pinsel. Ihr Pinsel, Alina“, sagte der Meister und schlürfte laut. „Sie werden eine brillante Pinselkünstlerin. Es wäre ein Verbrechen…“ „Ich kann nicht.“ „Er will noch einen Pinsel aus Ihrer Hand – ausschließlich aus Ihrer Hand…“ „Ich kann nicht. Es ist Mord.“ Alina wendete den Kopf ab von ihm, ihre Stimme ganz klein, als wäre sie sich nicht sicher. Der Meister atmete laut aus, ein gedehntes Stöhnen war zu hören. „Wovon reden Sie? Was für ein Mord?“ „Die Tiere, die Tiere werden ermordet. Die Haare. Und die Pinsel“, Alina schluchzte, schüttelte den Kopf, „sie sind es nicht wert.“

 

    Ein Schweigen. Als wären dies die letzten Worte. Danach der Weltuntergang. Die Uhr tickte im Wohnzimmer. Die Zeit war bar jeglicher Gedanken und jeglicher Sorgen und jeglichen Gewissens.

 

    „Alina, sehen Sie…“ Der Meister war sehr traurig. Sein ganzes Gesicht schien auf einmal zu hängen, nur noch vom Brustbein gestützt. Vor vielen vielen Jahren… „Ich habe es an dem Tag erfahren, ich weiß nicht, wie ich so dumm sein konnte, so ahnungslos, ich ärgerte mich so über mich selbst. Der alte Peter hat etwas erwähnt, und ich fragte nach, und er sah mich verwundert an, und ich verstand es, aber nicht plötzlich, nein, es dämmerte mir ganz langsam, während ich band und klopfte und ich spürte die Tränen, und sie fielen auf die Pinselhaare, ich sah sie darin verschwinden, als würden sie dahingehören und…"

 

    "Ich kann nicht.“

 

    Die Uhr tickte einsam und gleichgültig. Grausam ist die Zeit, die alles immer hinter sich lässt und nur eine Richtung kennt. Die Zeit enthüllt auch den Zauber, macht die Verbindungsfäden sicht- aber nicht erklärbar. Ein Wunder.

 

    „Sie haben die schreckliche Wahrheit erfahren, Sie haben geweint, Ihre Tränen berührten die Borsten, die Borsten, von einer genialen Hand geführt, vermischten die Farben und trugen sie auf die Leinwand und ein Meisterwerk entstand.“ Der Meister versuchte nicht einmal, seine Hand auf ihre zu legen. „Das ist Kunst. Das Leiden davor und die Freude danach.“ Er stand auf. „Es ist Ihre Entscheidung.“ Und Alina sagte nicht „Ich kann nicht“.

 

    Der Meister verließ sie leise und erschöpft. Man weiß nie, wann es so weit ist: Jedes Gespräch kann eines zu viel sein.

 

    Alina blieb am Küchentisch sitzen, dachte, dass sie nichts dachte, bis sie sich dabei ertappte, dass sie sich das Bild, das Meisterwerk vorzustellen versuchte. Voller Neugierde. Und Stolz.

 

                                  


                                                                                                                                           Natasa Dragnic

 

 

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