Länger, als er es in den letzten Wochen, Monaten, vielleicht in den letzten Jahren getan hatte. Sie hatte einen ihrer enganliegenden schwarzen Pullover an und eine Kette aus bunten Würfeln. Ihre schulterlangen dunkelbraun gefärbten Haare glänzten in der Morgensonne, die durch die verglaste Terrassentür schien. Wann hatte sie begonnen, Lippenstift zu verwenden?

Edita fragte sich, ob alle großformatigen Tageszeitungen dasselbe Geräusch beim Zusammenfalten machten.

Sounddesign, Simon, das klingt wie glückseliges Kolibriflügelflattern in meinen Ohren. Die Welt braucht viel mehr Klänge.“

Tut sie das?“, fragte Simon, hob kurz die Augenbrauen, zog die Zeitung wieder vor sich und vertiefte sich in der Sekunde in einen Artikel.

Kein Interesse an der Welt der Klänge?“ Kein Interesse mehr an mir?, dachte Edita, überhaupt kein Interesse mehr an mir.

Ed, seit wann interessiert du dich für Klänge? Du spielst nicht einmal ein Instrument“, sagte er unwirsch.

Das Einzige, was dich interessiert, ist der Klang des Geldes, oder? Da hab ich was für dich: Ich werd dir für deine Bank einen Banknotenzähler entwickeln, der selbst bei zwei Zwanzigern klingt, als würden 200.000 durchlaufen.“

Ach ja? Und was soll das bringen?“

Du fühlst dich besser.“

Noch besser würd ich mich fühlen, wenn ich jetzt meine Zeitung lesen könnte.“

Ignorant.“

Wahrscheinlich.“ Simon blätterte um. Er seufzte. Das würde ihr abgehen. Sein von Seufzern begleitetes Umblättern.

Hast du mitbekommen, dass ich vor zwei Monaten meinen Job gekündigt habe?“

Natürlich. Und dass du seither orientierungslos herumläufst.“

Ich bin auf der Suche nach einem neuen Lebensinhalt. Ich glaube, das könnte unter anderem Sounddesign sein.“

Neuer Lebensinhalt? Sounddesign? Sounds like Midlife-Crisis.“

Du bist ekelhaft.“

Entschuldige, Ed, aber du bist 40, schmeißt deinen gutbezahlten Job hin, willst Sounddesignerinwerden.“ Er sagte das Wort mit hoher singender Stimme. Er hatte eine schöne Stimme, zweifellos. Und sie hatte es immer geliebt, ihn in der Früh unter der Dusche singen zu hören. Das würde ihr ebenfalls abgehen. Sie machte sich eine Notiz im Kopf.

Er stand auf, schob den Sessel zurück, das machte ein gedämpften Quietscher, und sagte: „Ich muss los. Bis heute Abend.“

Sie hörte seinen Schritten über den knarrenden Parkettboden nach, drei, vier, fünf, sechs, jetzt blieb er bei der Garderobe stehen, um sich seine Jacke anzuziehen, seine Arme schlurften eine nach der anderen hinein, das hörte sich an, als würden sie angesaugt, dann das kurze klingelnde Scheppern der Schlüssel, als er sie einsteckte, und dann wieder Schritte, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, Tür auf- und zuziehen (kaum wahrnehmbares Scheuern der Unterseite am Boden), dann hörte sie die Tür ins Schloss fallen. All das würde ihr abgehen. Nicht der Mann, der diese Geräusche verursachte, sondern die Geräusche selbst. Sie stand auf, holte sich ihren Laptop und öffnete eine neue Word-Datei, die sie „Single-Sounds“ nannte. Sie schrieb:

 

Zu designende und technisch umzusetzende Geräusche für allein Lebende:

 

  1. Beim Nach-Hause-Kommen und Türe aufsperren muss sich das anhören, als wäre die Tür nur zugezogen und nicht versperrt gewesen. Das heißt, wenn man in Wirklichkeit den Schlüssel zweimal umdreht, muss es klingen, als würde man nur eine halbe Drehung machen.

  2. Sobald man „Hallo“ schreit, soll aus einem anderen Zimmer ein „Hallo“ zurückkommen. Wenn man es gewohnt ist, dass niemand antwortet, ist es natürlich besser, die Antwort wegzulassen.

  3. Vermisst man ein Haustier, tapsendes Geräusch eines näher kommenden Hundes. Achtung: Schwanzwedel-Geräusch nicht vergessen!

  4. Vermisst man eine Katze, dann entsprechend graziöse Schritte, eventuell ein sanftes Miauen.

  5. Vermisst man Kind oder Kinder, dann Töne aus einem geschlossenen Raum, die sich wie das Tippen auf einer Tastatur beim Chatten oder beim Computerspielen anhören.

  6. Eventuell klappernde Kochgeräusche aus der Küche.

  7. Aus dem Klo alle paar Stunden Spülgeräusche.

  8. Eventuell gedämpfte Fernsehgeräusche aus dem Wohnzimmer, wenn man sich selbst gerade in einem anderen Raum aufhält. (Der Fernseher soll hier keinesfalls wirklich eingeschaltet sein. Auch die Stereoanlage nicht, falls man sich für Musik entscheidet.)

  9. Wenn man selbst im Wohnzimmer ist und einen gemütlichen Abend verbringen will: Auf der Wohnzimmer-Couch beim Fernschauen je nach Belieben: Chips-Knabber-Geräusche neben sich, oder das wiederholte Nehmen und wieder Hinstellen einer Bierflasche oder eines Weinglases. Daneben bei Bedarf das Knistern eines Kamins.

  10. Später im Schlafzimmer: Wälzgeräusche inkl. Decken- und Polsterzurechtrichten, ein Kussgeräusch, dann Stille, dann tiefes, langsames Atmen, dann leises – Achtung: sehr leises und sympathisches – Schnarchen.

  11. In der Früh: Wälzgeräusche, tiefes Durchatmen, Gähnen, Kussgeräusch und das Geräusch einer Decke, die zurückgeschlagen wird. Dann Schritte wie von bloßen Füßen über den Boden (falls kein Parkettboden vorhanden, dann zusätzlich Parkettbodengenknarre, falls erwünscht) hinaus und Geräusch einer leise sich schließenden Tür.

  12. Kurz darauf Klospülung und dann Duschgeräusche. Elektrische Zahnbürste, Fön, ev. Singen.

 

Singen. Edita lächelte und zündete sich eine Zigarette an. Singen würde sie von nun an selbst. Sing und so, Ed, dachte sie. Sie hatte so viele Ideen, wie man das Leben über Klänge bereichern konnte, dass sie stundenlang hätte durchschreiben können. Nun hieß es, einen Ausbildungsplatz zu finden, die Sparbücher aufzulösen und eine Wohnung zu kaufen; Simon mitzuteilen, dass man einander wohl nichts mehr zu sagen habe und dann eine Firma zu gründen, in der das perfekte Sounddesign für Menschen entworfen wurde, die nicht gern allein lebten. Sie dachte dabei an unglückliche Singles, Geschiedene, Eltern, deren Kinder ausgezogen, an alte Menschen, deren Partner oder Partnerin gestorben waren. Wenn diese Leute schon unfreiwillig allein lebten, dann sollten sie wenigstens nicht immer nur sich selbst hören müssen.

Edita dämpfte ihre Zigarette aus und tippte:

 

  1. Wenn man genug hat vom Winter, Frühlingsgeräusche, die durchs scheinbar geöffnete Fenster dringen. Vogelgezwitscher.

 

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