Dem Ballettdirektoren scheint Elliot zu gefallen. Ich weiß nicht genau, warum. Aber gegen seinen Kopf kommt man sowieso nicht an.

Ich wärme mich eine Viertelstunde auf und absolviere anschließend einen immer gleichen Figurenablauf. Mein ganzer Tag ist ein immer gleicher Figurenablauf. Wenn der Wecker klingelt, beginnt er. Noch einmal umdrehen ist nicht vorgesehen. Ich fühle mich darin wohl. Die Struktur ist meine zweite Wirbelsäule. Ohne sie wäre ich ein Mädchen geblieben, dass davon träumt, Balletttänzerin zu werden.

 

Es ist schön, früher da zu sein. Wenn um acht Uhr der Rest der Kompanie eintrudelt, habe ich bereits die Steifheit aus meinem Körper getrieben. Wir proben ein neues Stück: Die Prinzessin und der Diener. Es handelt von einer Königstochter, die heiraten soll, aber alle Prinzen, die ihr vorgeführt werden, findet sie zu verwöhnt und langweilig. Sie bringt kein Wort heraus. Bald macht sich das Gerücht breit, dass sie stumm geworden sei, und kein Prinz will eine Prinzessin, die nicht wenigstens ein bisschen reden kann. Der Prinzessin ist das sehr recht. Sie lässt ihr Pferd satteln, nimmt einen Diener mit und reitet davon. Sie ziehen viele Tage und Wochen durch das Land, ohne dass die Prinzessin sagen kann, was sie eigentlich sucht. Doch das macht ihr von Tag zu Tag weniger aus. Er bringt sie zum Lachen. An der Seite des Dieners wird sie immer glücklicher und er immer königlicher. Als sie schließlich gemeinsam zurück auf den Hof reiten, erkennt niemand mehr den Diener im Prinzen an ihrer Seite.

 

Elliot und ich bekommen die Hauptrollen. Ich habe damit gerechnet, dass sie mich und Hannes besetzen würden. Wir sind das allgemein anerkannte Dreamteam für solche Rollen. Hannes’ Leistungen sind nicht schlechter geworden. Aber er hätte sich nicht darauf ausruhen dürfen. Ob er in Elliot keine Konkurrenz gesehen hat, oder wird er müde? Als ich Hannes frage, wie es ihm geht, sagt er: „Wut, Enttäuschung und Neid vergeuden nur Energie. Das kann ich mir nicht leisten.“ – Kluge Worte, doch sie klingen eingetrichtert. Ich wünsche ihm eine anständige Portion Wut auf sich selbst.

Ich muss mich mit Elliot abfinden. Man tut sich nichts Gutes, Missfallen an einer Rollenverteilung zu äußern. Der Ballettdirektor mag einen nur so lange, bis man seine Entscheidungen in Frage stellt. Er hat schon deswegen eine Hauptdarstellerin zur Zweitbesetzung degradiert.

Am Samstagabend erzähle ich Marius von der Besetzung. Er hat das Stück geschrieben. Ich gehe jeden Samstag zu ihm, wenn wir keinen Auftritt haben. „Stinkt er?“, fragt Marius. „Keine Ahnung“, sage ich, „nur der Spielraum ist zu groß. Wir harmonieren nicht so gut.“ Marius lacht mich aus. „Wer will denn Harmonie auf der Bühne sehen?“ – „Dann eben harmonisch disharmonieren.“ – „Wird das Fräulein Prinzessin etwa wählerisch?“ – „Das zeichnet Prinzessinnen doch aus, oder nicht?“ Dann küsse ich ihm den Mund zu. Ich will nicht weiter darüber reden.

Ich habe keine aufregenden Gefühle für Marius. Aber es ist einfach schön mit ihm zu schlafen. Vielleicht, weil er so zufrieden mit sich ist. Er hat einen kleinen Bauchansatz, auf den er sich immer ein wenig verlegen klatscht, wenn er unsere beiden Körper vergleicht. „Ich muss mal weniger Bier trinken“, sagt er dann und lacht. Ich finde ihn schön. Er ist weich. Ganz anders als die Tänzer, bei denen man jeden Muskel einzeln fühlen kann. Wenn er merkt, dass ich versuche, meine Müdigkeit von der Woche zu überspielen, sagt er: „Jedes kleine Wesen muss sich mal ausruhen.“ Über diese Weisheit muss ich immer lachen. Bei ihm fühlt es sich beinahe gut an, erschöpft zu sein.

Am Sonntagmittag gehe ich wieder nach Hause und nehme etwas von seiner Zufriedenheit mit wie ein übrig gebliebenes Stück Torte. Unter der Woche denke ich nicht an Marius. Es gefällt mir, ihn auf einen Tag in der Woche zu konzentrieren. Ich spreche auch nicht mit den anderen über unsere Rendezvous. Es gibt immer Gerede, wenn man etwas mit den Leuten hinter der Bühne anfängt.

 

Die Gruppenprobe läuft normal. Im Hauptteil bin ich die meiste Zeit mit Elliot allein auf der Bühne. Der Ballettdirektor will, dass wir diesen Teil selbst entwickeln. Sonst legt er sein Zepter nie so weit neben sich. Aber es fällt mir leicht, die Prinzessin zu spielen. Ich bin selbst eine, wenngleich ohne Personal. Ich muss nur verstärken, was ich sonst zurückhalte.

Am Anfang war es ein schönes Gefühl, bewundert zu werden. Das Lob auf den Premierenfeiern vergoldete den Schweiß, den die Leistung gekostet hatte. Aber es hat sich abgenutzt. Wiederholte Phrasen, für die der Lobende ein überrascht und demütiges Gesicht erwartet. Am besten noch einen Knicks. IchweißIchweißIchweiß. Und gleichzeitig brauche ich ihre Bewunderung, um mich meiner selbst zu vergewissern. Der Applaus hingegen tut immer noch gut. Er ist wichtig – das verabredete Zeichen nach einem Rausch, wieder zu sich zu kommen.

 

Elliot und ich kreisen um uns und jeder um sich selbst. Ich komponiere meinen Part aus Choreographieversatzstücken früherer Produktionen. Mein Gedächtnis offeriert ein immenses Repertoire. Während ich die einstudierten Figuren und Posen wieder hervorhole, fallen meinem Körper Ausdrücke ein, die mein Kopf schon längst vergessen hat. Ich tolle herum wie in einem wilden Garten, den ich seit meiner Kindheit nicht betreten habe. Als ich zu Elliot schaue, komme ich mir plötzlich vor wie ein Stubenkind. Elliot ruft kein Repertoire ab. Er sieht mich und antwortet mir mit Gesten und Bewegungen, auf die ich niemals gekommen wäre.

Seit ich fünf war, wollte ich werden, was ich geworden bin. Auf dem Ballettinternat wurden wir von Stufe zu Stufe weniger: zu groß, zu schwach, zu emotional, zu langsam, nicht talentiert, nicht ehrgeizig, nicht diszipliniert genug. Bei mittelschweren Verletzungen wurde sofort aussortiert. Manche erreichten die Oberstufe und konnten nicht mehr. Andere unterlagen erst später beim Vortanzen um ein Engagement gegen Hunderte von Konkurrenten – oder auch nur gegen den einen Letzten. Elliot hat diese Jahre ohne Applaus im Zeitraffer absolviert. Seine Leichtigkeit zu sehen, tut mir weh. Sie scheint die Kraft zu sein, die ihn antreibt; mich kostet sie mehr und mehr Anstrengung.

 

Als ich am nächsten Tag um viertel nach sieben ins Studio komme, nickt Elliot mir zu wie immer. Aber wir schauen uns einen halben Moment länger in die Augen als sonst. Er ist gerade dabei, sich zu drehen, lässt seinen Blick aber nicht abreißen, bis es gar nicht mehr anders geht. Ich drehe mich zur Wand. Das Blut schießt mir in den Kopf. Warum habe ich nicht eher weggesehen? Nach so einem Blick steht etwas im Raum. Eine Frage. Eine Erwartung. Ein Anspruch? Es muss schnell wieder weggehen. Es steht schon genug in unserem Raum. Ich fixiere den groben weißen Putz, bis ich seine Struktur auswendig kenne. Dann ziehe ich mich um.

Das Glühen verschwindet langsam aus meinem Gesicht. Das leicht fieberhafte Rot an meinen Wangen steht mir eigentlich. Und sonst? – Das Schlüsselbein tritt elegant hervor. Unterhalb zeichnen sich meine Rippen ab. Ich müsste gar keinen BH tragen. Aber ich finde, er macht eine schönere Form. Außerdem stechen dann die Brustwarzen nicht so aufdringlich durchs T-Shirt. Wenn ich mehr Busen hätte, würden meine Schultern sicher nicht so breit erscheinen. Und meine Arme nicht so muskulös. Sie sehen aus wie die von einem Mann. Ich frage mich, wie mein Körper wäre, wenn ich nicht so hart trainieren würde.

 

Ich versuche zu sein wie immer. Nur, wie bin ich, wenn ich normal bin? Wo gucke ich hin, wie gehe ich, was für einen Ausdruck hat mein Gesicht? Ich spiele mich selbst. Ob er es merkt?

Ich beginne meinen Figurenablauf. Mit sorgfältigen Bewegungen schaffe ich es, meine Gedanken zu knebeln. Vielleicht löst sich diese gefühlige Fata Morgana dadurch von alleine wieder auf. Ich weiß, dass es eine ist.

Manchmal bin ich kurz davor, zu Elliot zu schauen. Ich glaube, er starrt wieder an die Decke, oder sieht er zu mir?  „Lass mich in Ruhe. Fick dich, du Alien“, schreie ich stumm in seine Richtung. Ich komme mir blöd vor bei solchen Gesprächen, aber sie blockieren meine Gefühlsduselei für ein paar Minuten. Früher habe ich mich um Illusionen gedreht, bis mir erst schwindlig und dann schlecht war. Mittlerweile versuche ich sie zu zerstören, bevor ich in ihre Umlaufbahn gerate.

 

Ich bin froh, als die anderen da sind. Wir proben die Szenen von gestern. Wie eine sich ständig verlagernde Unwucht verselbstständigt sich die Sehnsucht in meinem Körper. Ich muss an einen Satz denken, den mein Ballettlehrer oft gesagt hat: „Es gibt nichts Schöneres als das Glück mit einer gesalzenen Prise Schmerz.“ Ich tanze als wäre ich allein; genieße den Schmerz und empfinde ein kleines bisschen Glück dabei.

Nach der Probe, als alle weg sind, lege ich mich mit dem Rücken auf das Parkett. Ich stelle mir die Holzfasern vor, wie sie ineinander greifen. Stark und elastisch. Die weiße Decke kommt mir unendlich vor. An einigen Stellen ist die Farbe zu dick aufgetragen. Dort hat der Pinsel satte Schrammen hinterlassen.

 

„Das war sehr schön heute.“ Elliot ist zurückgekommen. „Ich weiß“, sage ich, ohne meinen Blick von der Decke zu nehmen. Ich bin froh, dass er da ist. „Ich muss etwas klären, bevor wir weiterproben“, sage ich. „Wollen wir tanzen?“, fragt er und stellt sich vor mich, dass ich ihn beinahe anschauen muss. „Willst du Sex?“, frage ich. Er lacht auf. Ich habe dieses leicht schrille Geräusch noch im Ohr, aber kann nicht unterscheiden, ob er mich auslacht oder ihm der Gedanke gefällt. Er nimmt meinen Arm und versucht, mich vom Boden aufzuheben. Ich hatte auf ein Ja oder ein Nein gehofft – ganz egal, Hauptsache eine klare Antwort.

Ich lasse mich hängen. Aber er ist zu stark. Er setzt mich auf, greift unter meine Arme, hebt mich hoch, stellt mich auf die Füße. Aber ich will nicht, dass sie mich tragen. Ewig wird er mich nicht halten können. Ich werde zurück auf den Boden gleiten und liegen bleiben. Doch ehe ich mich wehren kann, liegt mein Becken auf seiner Schulter; mein Oberkörper hängt seinen Rücken hinunter. „Man muss nicht alles unter Kontrolle haben“. – „Sehe ich so aus?“, erwidere ich kopfüber. Meine Stimme erinnert mich an einen Frosch. „Aber du versuchst es.“ – „Sonst wäre ich auch nicht hier.“ – „Könnte sein, aber jetzt bist du hier.“ – „Ja“, sagt die Froschstimme „aber wieso bist du eigentlich hier?“ – „Um dich zu der Prinzessin zu machen, die du einmal warst“, sagt er freundlich. – „Du weißt nicht, wie ich einmal war.“ – „Bei deiner Unbedingtheit muss die Leidenschaft groß gewesen sein.“ Ich wünsche mir, dass er diese Wahrheit zurücknimmt. Was bleibt von einer Ballerina, die ihre Leidenschaft erstickt hat?

„Komm, wir tanzen“, sagt er ruhig und streicht mir über die Wade. – „Ich weiß nicht, wie man mit einem Alien tanzt“, höre ich mich sagen. Man muss Gedanken nur oft genug denken, irgendwann holen sie sich eine Stimme. – „Ein Alien weiß nicht, wie man mit einem Alien tanzt?“, fragt er. Es ist komisch, wenn man kopfüber lachen muss. Ich muss davon noch mehr lachen.

 

Katharina Müller-Güldemeister

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